
Kantenabsenkung am Steintor
Am Steintor gibt es Platz für die Radfahrer. Das klingt banal und selbstverständlich, ist aber ein deutlicher Fortschritt gegenüber anderen in den letzten 20 Jahren sanierten Plätzen (siehe Franckeplatz).
Die Planung und Bauoberaufsicht lag bei der HAVAG, vereinfacht gesagt dem Straßenbahnunternehmen von Halle. In einem größeren Bereich gibt es Fußwege, Radwege und das Gleisbett mit den Schienen. Die Radwege sind durch kleine Kanten vom Gleisbett abgesetzt.
Jetzt die Erklärung zum Bild: rot ist der Bereich mit Kante, grün ist der Bereich ohne Kante. Logischerweise die Frage: was soll das?
Vorgabe der Stadt an die Bauleitung waren Nullabsenkungen der Bordkanten an den Stellen, wo Radfahrer zwischen Radweg und Gleisbett wechseln.
Die HAVAG und die Bauleitung in ihrer Weisheit und Güte nahmen diese Verantwortung würdevoll entgegen. Jetzt folgt ein bisschen Spekulation von mir, wahrscheinlich hat es sich leicht anders zugetragen:
Der Planer ging zum Orakel und fragte: Oh Orakel, was kann ich nur mit diesen Nullabsenkungen anstellen? Das Orakel jauchzte und sprach: lass die Radfahrer Zickzack fahren! Nullabsenkung des Tempos, nicht nur des Bordsteins! Nichts ist amüsanter, als Gelegenheitsradler gewagte Kunststücke vollführen zu lassen! Der Planer fragte skeptisch: Das soll gehen? Die Radfahrer werden sich wehren, und ich bin meinen Job los und lande im Irrenhaus! Das Orakel lachte lange und sprach dann: du kannst dir gar nicht vorstellen, was die Radfahrer in Halle alles hinnehmen. Denk dir einfach irgend eine Begründung aus!
Aber wie gesagt, ich war nicht dabei. Sicher ist so viel:
Die Bauleitung und die HAVAG haben eine neue Regelung erfunden
An jener Stelle, wo eine Radwegfurt die Schienen kreuzt, möge sie dies von nun an im Winkel von 90° tun.
Das klingt nicht nur komplett albern und absurd, sondern ist es auch. Niemand würde von der HAVAG erwarten, solche Regelungen zu erfinden. Ich würde auch nicht von einer Fahrradwerkstatt verlangen, die Krümmungsradien der Straßenbahnkurven festzulegen, oder von einem Metzger, die richtige Fütterung von Rennpferden zu organisieren. Und selbst wenn, dann würde jeder vernünftige Fahrradmonteur das von sich weisen, mich dezent beiseite nehmen und diskret auf entsprechende Regelwerke verweisen.
Vielleicht kann die HAVAG sich nicht vorstellen, dass es für so primitive Dinge wie Fahrräder so was wie Regelwerke gibt. Vielleicht ist die Bauaufsicht über ein 21-Millionen-Projekt auch so knapp bei Kasse, dass ein entsprechendes Regelwerk zu teuer ist (immerin 50 Euro).
Vielleicht aber will die HAVAG bewusst den Radverkehr behindern und bremsen. Fakt ist, dass dieser Treppenwitz einer Regelung sich jetzt in Halle als Bauwerke manifestiert (es soll auch schon Radwege mit Geländer auf diese 90° Regelung hin geben), und die letzten 20 Jahre haben bewiesen: was für den Radverkehr erst mal steht, das steht, und wenn überhaupt, dann wird es frühestens in 50 Jahren korrigiert.
Ach so, in Deutschland (also mindestens außerhalb von Halle) gibt es Regelwerke, die sich auch schon mit dem Thema befasst haben. Beim Freund eines Freundes durfte ich mal einen Blick reinwerfen, und da gibt es ein ganzes Kapitel zum Thema Fahrrad und Schiene, worin auch steht:
Bei der Führung des Radverkehrs ist die spitzwinklige Überquerung von Straßenbahngleisen zu vermeiden. Ab einem Winkel von 50 gon oder mehr ist die Überquerung von Rillenschienen problemlos möglich.
Was sind gon? Das sind ein Winkelmaß, wo der rechte Winkel 90° = 100 gon hat, die Hälfte davon sind 50 gon = 45°. Jeder Radfahrer wird zustimmen, dass ab 45 Grad kein Problem mehr mit Schienen besteht.
Auch wenn der konkrete Anlass lächerlich klingt (der hallesche Radfahrer ist viel schlimmeres gewohnt als zwei kleine zusätzliche Tritte in den Hintern pro Strecke), ist es wichtig, Halle in dieser Beziehung ins Bundesgebiet zu reintegrieren. Außerdem stellt beim Auffahren eine regennasse Kante auch bei geringer Höhe ein eigenständiges Unfallrisiko dar. Betroffen sind alle drei Stellen, also der Weg von der Paracelsusstraße über die Ludwig-Wucherer-Straße, der Weg vom Steintorvarieté Richtung Bahnhof und dann noch das Queren der Straßenbahnlinien von der Straßenbahnhaltestelle Richtung Bahnhof hinüber zum Radweg.
Als kleinen Beleg, dass nicht einfach die Baufirma sich um 10 Meter vertan hat, hier der Sag's uns einfach:
Guten Tag,
auf Ihre Meldung 'Steintor: Kanten an den Radwegauffahrten' vom 11.05.2017 15:47:37 mit der ID 343386479 wurde eine neue Antwort erstellt.
Antwort: Vielen Dank für Ihre Meldung. Im Zuge des Bauvorhabens Steintor wurden alle Radwegfurten auf „0“ abgesenkt. Ihr Kritikpunkt wurde im Rahmen einer Bauabnahme besprochen. Da Ihre Kritik nicht bestätigt werden konnte, wird sich die Bauoberleitung gern mit Ihnen in Verbindung setzen um einen gemeinsamen Vor-Ort-Termin zu vereinbaren, sofern Sie daran Interesse haben.
Das "Sag´s uns einfach"-Team
Dieser Termin war sehr sachlich und konstruktiv. Begründet wurde die von der HAVAG erfundene Regelung mit Erfahrungen im Umgang mit Schienenunfällen. Eine Bezeichnung als "Fehler" wurde strikt zurückgewiesen, eine Korrektur ausgeschlossen ("da kann ja jeder kommen und den Stein lieber in gelb haben wollen"). Mindestens den Beteiligten war nicht klarzumachen, dass diese Führung absurd ist, sondern es ging eher in die Richtung "jeder fährt eben anders" und "wenn die Radfahrer sich nicht an die geplante Radwegfurt halten, können wir nichts dafür".